Die Entwicklung des Wanderruderns im Berliner Lokal-Anzeiger von 1926

Um Mitglieder für den Märkischen Ruderverein zu gewinnen, veröffentlichte Richard Nordhausen im Sommer und Herbst 1901 unter dem Pseudonym Max Kempff mehrere Artikel im Berliner Lokal-Anzeiger, die auf die Vorzüge der Wanderruderei aufmerksam machen sollten. 1926 resümiert er über die bisherige Entwicklung der Wanderruderei. Wir veröffentlichen den Artikel hier nochmal.


Wie die Berliner Wanderruderei groß geworden ist
Und wie der „Berliner Lokal-Anzeiger“ dabei mithalf

Von jeher hat sich der Berliner gern eine Wasserratte nennen lassen. Der Stralauer Fischzug, Kahnfahrten auf dem Neuen See waren Lieblingsbelustigungen unserer Väter und Mütter, als sie noch im Bratenrock und Flügelkleid dahergingen, die Chroniken erzählen uns, daß der weiland kurfürstliche Hof sich immer besonders gern zu Schiff nach den Charlottenburger Gestaden begeben habe. Und tatsächlich war die – leider im allgemeinen recht platonische – Neigung des Berliners zum Wasser instinktiv berechtigt. Um keine Großstadt der Welt liegt so reiches Fluß- und Seenrevier ausgebreitet, nirgends ermöglichen sich so köstliche, abwechslungs- und freudenreiche Ruder- und Segelfahrten ins Weite.

Trotz alledem aber hat die Meinung, daß Wasser keine Balken habe, bei uns auffällig lange vorgehalten. Längst bestanden in Deutschland nicht nur an der Wasserkante, sondern auch im Südwesten rührige Rudervereine, ehe sich der Berliner Unternehmungsgeist an eine gleiche Tat heranwagte.

Obgleich dann allmählich mit der wachsenden Sportwelle auch der Reichshauptstädter die Herrlichkeit der von ihm bisher zu gering geachteten Schätze erkannte, kam der Rudersport hierzulande nur mühsam vorwärts. Im großen Ganzen führte er ein Dornröschenleben, das höchstens einmal im Jahre, anläßlich der Grünauer Regatta, unterbrochen wurde. Eine besondere propagandistische Wirkung übte indessen auch diese Regatta nicht aus; es genügte der Masse, dabei gewesen und bei dieser Gelegenheit den Kaiser gesehen zu haben.

So stand es eigentlich noch um die Jahrhundertwende. Je nach Gemütsart und Temperament freute sich das Berliner Kind an den für damaligen Geschmack reichlich ausgezogenen Ruderern oder nahm Aergernis an ihnen, bestaunte auch wohl die schmalen Auslegerboote, die schwimmenden Särge, wie man sie nannte, und war im Geheimen von der Spleenigkeit der Insassen überzeugt.

Welche Wonnen aber den Wanderruderern blühten, in welchem Maße sie die verborgenen landschaftlichen Schätze der sehr zu unrecht verlästerten Mark Brandenburg entdeckten und genossen; welche Wundertage ihnen draußen in blau-goldenen und grünen Einsamkeiten beschert waren, davon ahnte die Menge nichts. Rudern galt für einen ebenso „exklusiven“ wie teuren Sport. Nur Leute mit sehr geschwollenem Portemonnaie, so hieß es, konnten sich an dem kostspieligen Klubleben beteiligen. Die Folge war, daß man sich in Berlin von 1890 bis 1900, in der Zeit allgemein erwachenden Wohlstandes, zwar aufs Rad schwang und die zumeist nicht gerade hinreißenden Chausseen der Provinz abklapperte, dem Wasser dagegen weiter ängstlich fernblieb. So blieb, trotz Theodor Fontane, die Mark in ihrer lieblichsten und ergreifendsten Anmut, in ihrer Gewässerpracht, unbekanntes Gebiet für das nach Goethe so verwegene Volk an der Spree.

Hier Wandel geschaffen zu haben, ist ein unleugbares Verdienst des „Berliner Lokal-Anzeigers“. Im Sommer und Herbst 1901 erschien aus der Feder von Max Kempff* eine Reihe von Aufsätzen, die den Berlinern die Vorzüge der Wanderruderei in lebhaften Farben, mit Liebe und Laune, schilderten. Einigermaßen erstaunt vernahm Berlin, daß nicht nur Potsdam, das im Glanz seiner Havel prunkende, den Bädekerstern verdiente, sondern daß auch im Südosten der Stadt noch stolzere und liebenswürdigere Grazie thronte. Wer sich an der Oberbaumbrücke ins Boot setzte, konnte 36 Kilometer stromaufwärts fahren, ohne auf eine Schleuse zu stoßen und dann weitere dreißig, vierzig Kilometer auf waldumstandener, verschwiegener Flut zurücklegen. Gelüstete es den Ruderer nach anderen Reizen und Abenteuern, so stand ihm der Wunderweg über die Havel bis nach Werder, Brandenburg usw. offen. Ebenso leicht konnten von Berlin aus die Mecklenburgischen Seen erreicht werden, die gute Kenner von jeher zu den schönsten des Vaterlandes gerechnet haben…

Max Kempffs Artikel weckten erst die Neugier, dann das tätige Interesse Berlins, und als er im Oktober desselben Jahres im „Berliner Lokalanzeiger“ zur Gründung eines großen Wanderrudervereins aufforderte, der es jedermann ermöglichen sollte, für ein Geringes ungeahnte Wasserwanderfreuden durchzukosten, da meldeten sich Tausende und Abertausende.

Mit einem Schlage war die Berliner Wanderruderei da, die bisher, trotz wackerer Einzelleistungen, ein kümmerliches Dasein geführt hatte.

Vierzig, fünfzig funkelnagelneue Boote lockten zu kürzeren und weiteren Fahrten ins Gebreit, und da an den ausgedehnten Flußufern noch überall reichlich Platz war, – in mancher Sonnabendnacht kampierte außer uns niemand am Müggelsee – so entwickelte sich rasch ein Sonntagsleben in märkischer Wassernatur, wie es bislang noch niemand gesehen hatte. Die falsche Auffassung von der Kostspieligkeit des Ruderns war zerstört. Männiglich nahm sich sein Mittagbrot auf die Reise mit; der reichlich vorhandene Bootsraum gestattete nicht nur die Unterbringung alles erforderlichen Kochgeschirrs, sondern auch wohltemperierter Getränke, Zelte, Mäntel und Decken für die Nacht konnten bequem verstaut werden. Amerikas berühmtes camping out war nun endlich in die Mark verpflanzt worden.

Zu den vorhandenen Rudervereinen einen neuen zu gründen, darum allein hätte sich der Aufwand nun freilich nicht gelohnt. Aber tatsächlich wuchs sich der Märkische Ruderverein rasch zu einer umfassenden Ruderbewegung aus. Ueberwog im Anfang auf allen Wassern der Umgebung die Adlerfahne, so reckten und streckten sich bald auch die anderen Klubs; Wanderruderei wurde bei ihnen gleichfalls Trumpf.

Nach einigem Hin und Her, das ja jeder Neuordnung vorangeht, erkannten die führenden Leute, daß Wanderrudern und Rennrudern in Wahrheit gar keine Gegensätze darstellten, daß eines vielmehr das andere ergänzte.

Die Stehereigenschaften des erprobten Wanderruderers, seine Zähigkeit und Geistesgegenwart, vor allem seine Eingespieltheit mit der Gesamtmannschaft, waren ausgezeichnetes Baumaterial für Rennerfolge. Wer sich für eine Kanone hielt und ein Regattaheld sein wollte, genoß im Wanderruderverein die denkbar beste Vorbildung. Hunderte von Koryphäen, die später in Grünau, Frankfurt am Main und Hamburg geglänzt haben, wären ohne die Gigs der Wanderruderer überhaupt nie zur Ruderei gekommen.

Im Jahre 1901 waren die Mitgliedzahlen der Berliner Ruderklubs noch verhältnismäßig gering und standen hinter denen des Reiches wesentlich zurück. Von da an aber begann der große Aufstieg. Gewiß, er wäre auch ohne die vom „Berliner Lokal-Anzeiger“ geleistete propagandistische Arbeit gekommen, hätte dann aber viel später eingesetzt und nicht entfernt so reiche Frucht getragen. Wenn heute in Berlin mindestens zehntausend organisierte Ruderer leben, ganz abgesehen von den zehntausend sogenannten wilden, dann darf sich unser Blatt rühmen, den entscheidenden Anstoß zu der stolzen Entwicklung gegeben zu haben. Im Laufe der Zeit ist das allgemein dankbar anerkannt worden, das dümmliche Gerede von der Proletarisierung des Rudersports verstummt. Ja, immer lebhafter wird der Wunsch, daß recht bald ein neuer Bahnbrecher erscheinen und wiederum Massen aufs Wasser führen möge. Denn wenn auch heute jeder junge Berliner und jede junge Berlinerein weiß, daß selbst der schmalste Geldbeutel die Teilnahme an den Genüssen der Wanderruderei ermöglicht, so drängt sich der Strom der Sportlustigen doch auffällig in andere Gefilde. Und das ist schade für beide Teile, die Berliner Jugend und die sportliche Ruderei. Zwar hat es oft den Anschein, als seien Spree und Havel bereits überfüllt, ein so dichtes Gedränge rudernden, paddelnden, segelnden, motorbootfahrenden Volks tummelt sich auf ihnen. Aber jenseits von Königswusterhausen, hinter Neue Mühle, dehnen sich noch schier endlose, wundervoll von Wald und Wiesen umsäumte Wasserflächen und auch um Potsdam herum gibt es der stillen Winkel noch genug. Es wird Aufgabe der Berliner Wanderrudervereine sein, nicht stille zu stehen, nicht wieder auf ein Wunder zu warten, sondern sich beizeiten überall da Stützpunkte zu schaffen, wo in höchstens fünf bis zehn Jahren mindestens so reges Sportsleben herrschen wird, wie jetzt in der näheren Umgebung Berlins. Alle Anzeichen dafür sind vorhanden. Kluge Geschäftsleute errichten draußen an jedem günstig gelegenen Platze Unterkunftshäuser für Boote und Ruderer, wodurch sie selbstverständlich den Vereinen, den Pionieren und Trägern der Ruderei, wertvolle Kräfte entziehen.

Dem „Berliner Lokal-Anzeiger“ soll es unvergessen bleiben, daß er sich nicht nur für die Männer eingesetzt hat, als er der Berliner Wanderuderei zu ihrer heutigen Blüte verhalf. Das Mädchen- und Jugendrudern fand bei ihm ebenfalls freundwillige, verständnisvolle Unterstützung, und so heftiger Widerstand auch einsetzte, als er für sie seine Stimme erhob – der Gedanke ist rasch siegreich durchgedrungen.

Statt weiter über Säuglingsrudern zu witzeln, wie es eine zeitlang eintönige Mode war, haben sich alle irgendwie in Betracht kommenden Berliner Rudervereine jetzt Jugendabteilungen zugelegt, von denen ihnen erwünschter, guter Nachwuchs sproßt. Ein großer Jugendruderverband besteht, der vom Deutschen Ruder-Verbande amtlich geschützt wird, und es besteht ein zahlreiche Vereine umfassender Damen-Ruder-Verband.

Die Berliner Ruderei ist, wenn man das in ihrem Falle kühne Bild gebrauchen darf, in den Sattel gesetzt worden. Zeige sie nun, daß sie reiten gelernt hat!

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Richard Nordhausen, erschienen im „Berliner Lokal-Anzeiger“ am 14. November 1926 (Hervorhebungen nicht im Original)