Im Wanderruderboot durchs Weserbergland

Die 60. LRV-Osterfahrt vom 14. bis 18. April 2022

Vorwort

„Bisher is dit ja ooch ne Wandafahrt zum Fajessn…“. Mit diesen ernüchternden Worten beschrieb ein Ruderkamerad nach einer erfrischenden Dusche im kältesten Bootshaus Deutschlands, das sich noch als erstaunlich warm herausstellen sollte, seinen desillusionierten Eindruck vom bisherigen Verlauf der 60. LRV-Osterfahrt. Auf meine erstaunte Rückfrage entgegnete er, dass ja bisher noch nichts schiefgegangen sei und schließlich nur die Fahrten in Erinnerung blieben, auf denen es irgendwelche Zwischenfälle gegeben habe.

Die Wanderfahrt, auf der ich das erste Mal dabei war und der wir alle immerhin viereinhalb Tage unserer Freizeit gewidmet haben, droht also möglicherweise in der geistigen Abstellkammer zu verschwinden. Das ist umso trauriger, da es einerseits den einen oder anderen bemerkenswerten und lehrreichen Zwischenfall dennoch gegeben hat. Andererseits ist die Fahrt, die bei meist herrlichem Sonnenschein stattfand und durch traumhafte Landschaften führte, sicherlich keine schlechte Werbung für Einsteiger, die sich bisher nur noch nicht getraut haben, auf Wanderfahrten mitzufahren. Sich auf die Eigenheiten vieler unbekannter Personen einzulassen, die man auf solchen Fahrten immer trifft, ist zwar bestimmt nicht jedermanns Sache. Aber die Freundschaften und Kontakte, die man auf jeder Fahrt knüpft, wiegen anfängliche Unsicherheiten und jeden Rüffel, den es zwischendurch mal geben mag, um ein Vielfaches auf.

Das gilt auch, wenn man wie ich mit großem Abstand der jüngste Fahrtenteilnehmer ist. „Sag mal, warum tust du dir als junger Mensch eine Fahrt mit all diesen alten Saufköpfen an?“, fragte mich ein Mitfahrer, den ich bereits von einer anderen Wanderfahrt her kannte. Nun, warum tut man sich so etwas an? Aus einem Grund, der sich meist erst in der Rückschau erkennen lässt: Die Tour hat mich trotz aller genannten Einschränkungen persönlich sehr bereichert und ich habe viel dazugelernt, sowohl menschlich als auch ruderisch und natürlich geographisch.

Auch deshalb habe ich meine Eindrücke etwas ausführlicher und für manche vielleicht ungewöhnlich erschöpfend aufgeschrieben. Denn schließlich ist es diese eigentümliche Rudererromantik, die schon immer die Faszination für einen Sport zum Ausdruck gebracht hat, der einen für ein paar Tage die Sorgen und den Stress des Alltags vergessen lassen kann. Gerade in unseren strapaziösen Zeiten ist das eine kaum zu unterschätzende Erholungsquelle: Wenn die Wellen sanft um den Bug plätschern und der schlanke Bootskörper unter dem meditativen Rucken der Skulls gemächlich durch eine malerische Flusslandschaft gleitet, lässt sich trotz körperlicher Anstrengung wieder mentale Kraft aufnehmen.

Daher ist es nicht zuletzt meiner Zuneigung für den Rudersport geschuldet, dass der folgende Text der Länge der Wanderfahrt alle Ehre macht. Er ist ein Versuch, die vielen Eindrücke, Erlebnisse, Begegnungen und Dialoge, von denen eine Wanderfahrt lebt, möglichst erlebbar zu beschreiben. Vielleicht habe ich am eigentlichen Zweck eines Fahrtenberichts vorbeigeschrieben, aber sicher kann der eine oder andere dennoch den Reiz des Wanderruderns nachvollziehen, der in den folgenden Zeilen hoffentlich zum Ausdruck kommt.

Dominik

Die nachtdunkle Straße schien kein Ende zu nehmen. Abwechselnd schwenkte sie in weichen Kurven von rechts nach links und links nach rechts durch die hohen Nadelwälder des Werratals. Hatten die Bäume bei Tag noch fröhlich ihre Spitzen in den Himmel gereckt, so flankierten sie nun, kaum mehr als eine düstere Ahnung von dem, was da draußen wohl eine Landschaft sein sollte, den Weg, den sich der voll besetzte Bus des Landesruderverbandes über die dunkle Piste bahnte. Nur selten huschten Lichter entgegenkommender Autos an uns vorbei. Seitdem wir schon vor längerer Zeit von der Autobahn abgefahren waren, war es einsam um uns herum geworden. Im Bus war es nach über vier Stunden Fahrt still geworden, obwohl ich mir die Zeit mit meiner gesprächigen Sitznachbarin bisher hervorragend vertreiben konnte. Wir hatten schon fast alle Lebensgeschichten ausgetauscht, als plötzlich zwei gleißend helle Lichter auf uns zurasten und den Bus gerade um wenige Zentimeter verfehlten. Hellwach durchzuckte uns der Gedanke, dass alle Geschichten, von denen wir eben noch erzählt hatten, soeben einen jähen Abschluss hätten finden können. Der kurze Schockmoment wich aber auch bald wieder einer gelangweilten Anspannung, als wir an einer Baustellenampel auf die Weiterfahrt warten mussten, deren Rot einsam in die Nacht hineinleuchtete. Nach einer gefühlten Ewigkeit ging es weiter und schon bald rollten wir in das menschenleere Stadtzentrum von Eschwege hinein. Die Bürgersteige waren schon längst hochgeklappt, als der Bus an postkartenhaften Fachwerkhäusern vorbei zum Bootshaus des Eschweger Rudervereins am Ufer der Werra hinunterfuhr. In der dunklen Leuchtbergstraße ließ sich das wuchtige Gebäude nur grob erkennen, aber zum Halten reichte es. Lange war es nicht mehr so erholsam gewesen, die in Form gepressten Beine wieder strecken zu können, und so starksten wir mit unserem Gepäck eine Rampe hinunter zur Eingangstür in die Bootshalle, hinter der sich links eine schmale Stiege hinauf zum hell erleuchteten Flur des Obergeschosses eröffnete. Aus dem Clubraum am anderen Ende des Flurs drangen die wohlig klabauternden Stimmen der anderen hinunter, die schon vor uns angereist waren. Voller Freude wurden wir empfangen und freuten uns unsererseits über das Wiedersehen mit altbekannten Gesichtern. Das Gepäck wurde erstmal sich selbst überlassen, das Begrüßungsbierchen geöffnet und schon saß man mit dem mitgebrachten Abendessen an der langen Tafel. Es folgten mehrere Stunden angeregter Gespräche. „Ihr Märker seid eigentlich der schönste Verein“, lobte eine Kameradin. Auch das noch.

Allmählich lichteten sich die Reihen, denn schließlich lagen vier intensive Rudertage vor uns und da wollten viele wohl sicherheitshalber ausgeschlafen sein. Nacheinander verschwanden die meisten im Saal nebenan oder auf der geräumigen Veranda, drei Damen machten es sich in der Damenumkleide bequem, wohingegen es eine einzelne in den miefig-kalten Trainingsraum im Untergeschoss zog. Ich bezog mein Einzelzimmer in der Herrenumkleide und schlief fernab des großen Sägewerks nebenan hervorragend ein.

Der Stuhlwecker funktionierte perfekt. Da sich am vergangenen Abend die Tür zur Herrenumkleide nicht schließen ließ und immer wieder aufsprang, hatte ich von innen einen Stuhl gegen die Tür gestellt, um dem Problem Abhilfe zu schaffen und mich etwas vom Gedröhne der restlichen Leute im Clubraum abzuschirmen. Natürlich war mir klar, dass es dann am nächsten Morgen laut werden würde, wenn die ersten in die Umkleide zu den Waschbecken poltern würden, aber dann müsste ich ja sowieso ebenfalls aufstehen. Rrrrrrrummms!!! Zeit zum Wachwerden.

Um der Langeweile vorzubeugen, sollten nicht alle beim Frühstück mithelfen, sondern schonmal ein paar Boote von den Hängern abladen und aufriggern. Dummerweise war zwischendurch niemand mehr für die Aufbackbrötchen zuständig, sodass uns der Ofen schließlich fröhlich rauchend mitteilte, dass die Holzkohle fertig war. Bei der zweiten Tranche achteten wir deshalb mit Argusaugen darauf, sie etwas bekömmlicher zuzubereiten und da die erste weggeschmissen werden musste, blieb noch mehr Zeit zum Riggern.

Nachdem wir uns für den Tag gestärkt und unsere sieben Sachen zusammengepackt hatten, studierten wir noch kritisch die Bootseinteilung, die für den einen verheißungsvoll grüßend, für den anderen verhängnisvoll drohend im Flur klebte. Noch schnell ein Gruppenfoto vor der Werra gemacht, dann wurden die schweren Boote ins kühle Nass geschoben. Einsteigen, Türen schließen und draußen einstellen. Als alle sich fertig gemeldet hatten, gab die Steuerfrau das Kommando. Die 60. LRV-Osterfahrt begann.

Unser Boot „Wicking“, ein betagter D-Vierer mit Schlingerkielen und Süllrand, schien wohl eher für den Atlantik als die schmale Werra gebaut worden zu sein, und nach seinem Zustand zu urteilen, hatte er ersteren wohl auch schon mehrmals überquert. Langsam glitten wir in die Altstadt von Eschwege hinein auf die kleine Schleuse zu. Vorsichtig tasteten wir uns an dem langgezogenen Wehr vorbei, das parallel zu unserer Fahrtrichtung den rechten Uferrand in einen gefährlichen Abgrund verwandelte. Schräg gegenüber, backbords voraus, rauschte ein weiteres Wehr in den Unterlauf der Werra hinab, diesmal jedoch quer zum Fluss. Zwischen beiden Wehren lag die Schleuse, die uns wider Erwarten mit geschlossenen Toren empfing, sodass wir versuchten, an die rechts davor liegende niedrige Betonuferwand heranzufahren und hinter dem vorausgefahrenen Zweier, der ebenfalls vor der Schleuse auf die Einfahrt wartete, Platz zu finden. Wir hätten dabei jedoch besser auf den Rat hören sollen, den uns ein erfahrener Werrafahrer zuvor auf dem Sattelplatz eingeschärft hatte: Ausnahmsweise mit Tempo in die Schleuse hineinzufahren, um dem Sog des Wehrs zu entgehen, der hier besonders tückisch sein sollte. Weil die Tore aber noch geschlossen waren und wir uns nicht trauten, mit Volldampf auf eine Uferwand und den anderen Zweier zuzufahren, drosselten wir die Kraft und gerieten sogleich mit unserem Heck in den Sog des backbords liegenden Wehrs. Mit kräftigstem Rückwärtsrudern an Backbord und Hilfe von Land erreichten wir schließlich doch noch unseren Liegeplatz.

Da in der Schleuse Selbstbedienung herrschte, mussten wir noch kurz auf den Landdienst warten, der aber bald eintraf und uns die Tore öffnete. Fernab jeglicher Strömung konnten wir nun ruhig in die enge Kammer gleiten und einen Platz entlang der alten Sandsteinwände finden. Nun hieß es abermals ausharren, denn die anderen Boote ließen auf sich warten. Unter dem grau melierten Himmel, der inzwischen keinen Sonnenstrahl mehr durchließ, wurde es in der feuchten Kammer allmählich kühl. Fröstelnd fiel der Blick abwechselnd mal an den Rücken der Mitruderer vorbei zur Schleuseneinfahrt, mal nach rechts hoch zum Landgrafenschloss, das mit seinen mächtigen Renaissancegiebeln majestätisch über der Stadt und noch höher über unseren Köpfen thronte. Erwartungsvolle Stille lag über der Kammer, als plötzlich der nächste Vierer mit einem Höllentempo um die Ecke in die Kammer einbog. Er wurde dabei so weit vom Sog des Wehrs weggetragen, dass es ihn am Einfahrtstrichter zur Schleuse fast gegen die Wand geschleudert hätte. „Oh Gott!“, rief jemand. Atem anhalten. Aber es war ja nichts passiert. In dem Boot saß zu allem Überfluss auch noch der Werrafahrer, dessen Attribut „erfahren“ sich nun zwei Anführungszeichen verdient hatte. Als alle Boote ihren Platz in der Schleuse gefunden hatten, schloss der Landdienst die beiden Flügel des oberen Tors, um gleich darauf am unteren die Schieber zu öffnen. Langsam ging es abwärts, und aus den trockenfallenden Mauerfugen zwischen den Sandsteinquadern der Kammerwände sprudelten kleine Wasserstrahlen heraus.

Schließlich konnten wir mit einem Blick über die Schulter das restliche Wasser durch die geöffneten Schieber ins Unterwasser ablaufen sehen und kurz darauf schoben sich die Torflügel zur Seite. Freie Fahrt!

Hinter dem Ende des Schleusenkanals ruderten wir in den schnellen Strom der Wehrgräben hinein, die die Werra mit uns aus Eschwege herausführten. Jetzt wurde die Fahrt rasant. 14 bis 15 Stundenkilometer sollten es über die meiste Zeit des Tages im Durchschnitt sein. Unter einer hohen stillgelegten Eisenbahnbrücke hindurch rauschten wir in eine Wiesenlandschaft hinab, die fortwährend von Bergen flankiert wurde, auf deren Gipfeln hier und da eine Burg ihre Bauten in die Höhe reckte. Vor uns schlängelte sich die Werra sanft hin und her und wäre nicht der verstreute Müll an ihren Ufern gewesen, hätte sich dem Betrachter der Eindruck unberührter Natur aufgedrängt.

Dafür war die menschengemachte Natur umso präsenter: Hühner suchten beschäftigt am Hang nach Fressbarem, Kühe und Pferde schauten neugierig zu uns herüber. Hinter den schrägen Hängen der Ufer waren immer wieder kleine Orte mit schwerfälligen Fachwerkhäusern zu erkennen und bildeten mit den dahinterliegenden Bergen ein Postkartenmotiv nach dem anderen. Kurz vor Bad Sooden-Allendorf wollte der Morgenkaffee aussteigen und so war es fast eine Sensation, dass wir an dem naturbelassenen Ufer einen klapprigen Ponton fanden, dessen angemoderter Holzbelag zwar nicht sonderlich vertrauenserweckend wirkte, aber das Aussteigen immerhin deutlich erleichterte. Wieder im Boot, kündigte sich bereits die nächste Schleuse an: Das aufgestaute Wasser ließ die Strömung schwächer werden und an der Backbordseite tauchten nun wieder kleine Wehre auf, die uns auf dem Weg in die Altstadt begleiteten. Hinter einer scharfen Linkskurve fuhren wir in die schmale Schleuse ein, an der der Landdienst diesmal bereits überpünktlich auf uns wartete. Am oberen Tor war ein Quader in die rote Sandsteinwand der Kammer eingelassen, auf dem offenbar eine Jahreszahl stand. Leider war die Schrift zu verwittert und unser Boot noch zu schnell, um die Angabe entziffern zu können. Nachdem sich alle an den Kammerwänden verteilt und den ersten Eierlikör geschluckt hatten, schlossen sich die Tore und das Wasser rauschte aus der Kammer in den Ablaufgraben. Unten angekommen, fädelten wir uns in die Reihe der ausfahrenden Boote ein. Am unteren Tor entdeckte ich einen weiteren Quader, auf dem die Jahreszahl diesmal deutlicher zu lesen war: 1767 stand dort.

Es blieb jedoch kaum Zeit, das stattliche Alter der immer noch funktionierenden Schleuse zu bewundern, das viele ohnehin nicht bemerkt hatten. Der Ablaufgraben war für Ruderboote mit ausgelegten Skulls zu schmal, und so schoben wir uns mit Spreewaldschlag und Paddelhakeneinsatz durch die schmale Rinne. Unter uns wirbelten die vorausfahrenden Boote den schlickigen Grund auf, der manch einen an frühere Fahrten erinnerte, bei denen wohl so wenig Wasser im Graben war, dass die Boote sich im „Schlickrutschen“ beweisen mussten.

Abermals bogen wir nun in den rasanten Strom eines Wehrgrabens ein, und schon ließen wir Bad Sooden-Allendorf wieder hinter uns.

Die Fahrt verlief nun zunächst weitgehend unspektakulär, bis wir schließlich bei Witzenhausen am Kanu-Club unsere Mittagspause einlegten. Der Verein lag am Innenufer einer langgestreckten Linkskurve. Wir achteten auf die Strömung und begannen schon in Sichtweite des Stegs mit einer Wende über Backbord, um den schweren Vierer anschließen mit graziler Langsamkeit und Geduld an den aus schwimmenden Kunststoffkammern bestehenden Steg anzudocken. Kaum waren wir ausgestiegen, das Gepäck an Land und die Skulls im Boot, ließen wir die „Wicking“ mit der Strömung hinter die strömungsabgewandte Seite des Stegs gleiten, um sie neben den anderen Booten einzureihen, die sich dort schon die Werrafluten um den Bug gurgeln ließen. Die Bugleine reichte aus, um den Kahn nun sicher am Steg festzubinden.

Gleich darauf mussten wir einem hochbetagten Paddler helfen, sein Zweierkajak mitsamt seiner noch betagteren Begleiterin aus der Werra zu ziehen. Die Dame konnte nicht mehr selbständig aus dem Boot aussteigen und erst als es an Land lag, gelang es, sie mit vereinten Kräften aus der Sitzschale zu hieven. Unter dem einhelligen Kopfschütteln der Osterfahrer bewegte sie sich mit minimalsten Schritten auf ihr Gepäck zu, das sie etwas weiter entfernt auf dem Bootsplatz deponiert hatte. Die gebrechliche Dame war kaum noch in der Lage zu laufen, geschweige denn hätte sie sich in irgendeiner erdenklichen Notsituation aus dem Wasser retten können. „Na ich habe doch eine Schwimmweste“, entgegnete sie unserem besorgten Hinweis auf ihren Gesundheitszustand. Manchen Paddlern scheint wohl der gleiche Traum wie einigen Ruderern innezuwohnen, das Zeitliche am liebsten im Boot zu segnen. Oder sie scheuen gleich jeden Gedanken um das „Was wäre wenn und was würde es für alle anderen bedeuten?“.

Schließlich trudelte auch der letzte Vierer ein, den der Obmann kurzerhand an der Längsseite des Stegs verankerte, indem er den Paddelhaken von oben durch den Ausleger schob und mit dem Stiel in einer Röhre des Stegs fixierte. Genial!

Nachdenklich kauten wir auf unseren Brötchen, während wir den steilen Berghang am gegenüberliegenden Werraufer hinaufsahen, um den sich vorsichtig eine Eisenbahnstrecke herumwand. Ab wann macht der körperliche Zustand Wassersport gefährlich und was lässt sich wann noch von wem verantworten? Das Paddelboot lag träge zur Seite geneigt auf der Wiese, während sich auf der Bahnstrecke ein schwerer Güterzug majestätisch den Weg durch die hohen Baumwipfel bahnte. Die kantige E-Lok aus alten Reichsbahnbeständen, die wegen ihrer Erscheinung von Eisenbahnfreunden völlig zurecht den Spitznamen „Elektronikcontainer“ verpasst bekommen hat, bildete einen scharfen Kontrast zur schroffen Unordnung des Berghangs. Das Leben scheint weiterzugehen und sich so wenig wie die nicht abreißen wollenden Wassermassen der Werra darum zu kümmern, wer in seinem Strom wie lange mitschwimmt.

Wir stiegen wieder in unsere Boote. Ein kurvenreicher Abschnitt lag vor uns, der uns immer tiefer in eine steile Schlucht des Werratals hereinführte. Nun begann der schwierigste Abschnitt des Tages, denn außer mehreren Umtragestellen sollte noch ein Flutgraben mit schneller Strömung auf uns warten, irgendwo, vielleicht schon hinter der nächsten Kurve. Unser Obmann im Bug schaute immer wieder auf die laminierte Karte, auf der der Gewässerverlauf und auch die Landmarken allerdings nur grob eingezeichnet waren. Noch einmal ging es um die Kurve. Da plötzlich tauchte an Backbord ein kleiner Abzweig auf. Der Flutgraben. Unsere Steuerfrau manövrierte den schweren Vierer in die enge Rinne hinein. Wir glitten durch die schmalen Kurven. Hatten wir nicht gehört, dass die Strömung hier schneller werden sollte? Warum floss die Werra noch mit gleichbleibender Geschwindigkeit? Trügerisch schlängelte sich der Fluss weiter und mit jeder weiteren Biegung wurden wir misstrauischer. Es herrschte gespannte Ruhe im Boot. „Da vorne ist es!“, rief unsere Steuerfrau. Als ich mich umdrehte, sah ich etwa vier Bootslängen vor uns die Werra plötzlich schräg bergab rauschen, das Wasser überschlug sich, die Wellenkämme tanzten zwischen den Wasserwalzen. „Es geht los!“, bestätigte unser Bugmann. Das Boot beschleunigte rasant, 16 km/h, 17 km/h, 18 km/h. Viel mehr als uns rudernd hindurchziehen zu lassen, konnten wir nicht tun. Die Wellen brachen sich an den Auslegern und die Kämme gurgelten bis zum Süllrand hinauf, der sich nun als erstaunlich hilfreich erwies. Ein paar Sekunden fegten wir so bergab, bis uns der Graben unvermittelt wieder in den eigentlichen Flusslauf spuckte. Beifall für die Steuerfrau. Mit normaler Geschwindigkeit setzten wir unsere Fahrt fort.

Langsam wuchsen die Hänge an den Ufern zu immer steileren Höhen heran, jedenfalls für unsere brandenburgisch geprägte Landschaftswahrnehmung. Und so demonstrierte uns das Tal seine Tiefe, als wir uns auf seiner Sohle dem Letzten Heller näherten, der in der Ferne aus dem dunklen Einerlei der bewaldeten Höhen weiß hervorstach. Wie ein Tor streckte sich vor ihm eine mächtige Autobahnbrücke auf Höhe der Bergkämme von rechts nach links über die gesamte Breite des Tals. Wir fuhren zwischen den schlanken Stützen hindurch. Auf der rechten schob sich ein Relief aus der Ziegelverblendung hervor, dessen völkisch-nationaler Ausdruck den Betrachter noch heute vor dem Mythos der Reichsautobahn erschaudern ließ. Der Ingenieur und der Arbeiter blickten sich jedenfalls so grimmig-entschlossen an, dass die Atmosphäre nicht zum Verweilen einlud. Noch unter einer Eisenbahnbrücke aus der gleichen Entstehungszeit hindurch, dann lag der Letzte Heller vor uns, dessen Wehr den Fluss auf nahezu der gesamten Breite absperrte. Am rechten Rand der Staustufe surrte ein großes Elektrizitätswerk, links erwartete uns die stillgelegte alte Schleuse. Und so legten wir uns ganz links neben ihr hinter einem Schilfgürtel, der von Plastikmüll nur so durchzogen war, an eine flache Betonuferkante. Die fehlende Strömung offenbarte hier die ganze Verschmutzung der Werra, die der Strom sonst beschämt wegspülte. Aber hier, ganz am Rand, ging es nicht. Nachdem das vorausfahrende Boot auf dem Bootswagen lag, wuchteten wir mit Hilfe seiner Mannschaft die „Wicking“ an Land und wenig später auf den frei gewordenen Wagen, nachdem die andere Mannschaft mit unserer Hilfe ihr Boot ins Unterwasser gelassen hatte.

Schwerfällig schoben wir nun unseren Vierer die glatte Betonrampe bis zum Scheitel hinauf, der den Blick auf die trockene Schleusenkammer freigab, die sich nun rechts neben uns v-förmig in den Boden einschnitt. Verwahrlost standen die Tore einen kleinen Spalt offen, unfähig, noch das kleinste Boot zu empfangen oder dem Druck der Wassermassen standzuhalten. Die traurige Anlage erinnerte ebenso an bessere Zeiten wie die Gleisreste auf der Betonrampe, die wohl schon lange keine Schurre mehr gesehen hatten. Auf dem Weg zum Unterwasser mussten wir nun aufpassen, nicht vom schweren Boot mitgezogen zu werden. Unten angekommen, verschwand die Rampe im Matsch eines unbefestigten Ufergürtels. Gerade so schafften wir es, das Boot zum Schwimmen zu bringen und am ungeraden Saum der Werra ohne ein unfreiwilliges Bad wieder einzusteigen.

Weiter ging es, das Ziel vor Augen. Vor Hann. Münden teilte sich der Strom: Während an Backbord eine weitere Stromschnelle Richtung Innenstadt floss, schwenkten wir auf einen ruhigen Seitenarm nach Steuerbord ein. Den Wehrgürtel zur Stromschnelle ließen wir bald hinter uns und glitten an Kleingärten und einer belebten Innenstadtstraße vorbei, die zwar „Blume“ hieß, in ihrem Erscheinungsbild aber sicherlich niemanden von uns auf den Gedanken gebracht hätte, ihr diesen Namen zu geben. Langsam fuhren wir nun unter einer mächtigen Steinbogenbrücke hindurch, hinter der sich an Backbord ein breites Wehr erstreckte, an dessen Ende eine weitere Betonrampe auf uns wartete: Die nächste Staustufe war erreicht, die auch hier zur Energieerzeugung genutzt wurde: Steuerbords neben der Rampe schraubten zwei kräftige schwarze Walzen unaufhörlich in den herabstürzenden Wassermassen der Werra und erfüllten die Luft mit einem permanenten Peitschen. Direkt neben dem Wehr mussten wir warten, da die Rampe noch belegt war. Unter der Brücke zu halten wäre besser gewesen, aber glücklicherweise war nur wenig Zug auf dem Wehr. Schließlich hatten wir es geschafft. Auch hier stand nur ein simpler Bootswagen ohne Schienenbindung zur Verfügung, auf dem der vor uns fahrende Vierer schon einen bequemen Platz gefunden hatte. Wir stiegen aus unserem Boot an einer Stelle ins kühle Nass, an der die Rampe noch unter Wasser war, und halfen der anderen Mannschaft, ihr Boot hoch zum Scheitel und hinunter zum unteren Ufer zu schieben. Einige Meter neben der Rampe hatte ein Schwan sein Nest gebaut, und so beäugte uns die brütende Inhaberin auf dem Weg abwärts mit aufmerksamen und kritischen Blicken, um kurz darauf jedoch ihren Schnabel desillusioniert wieder unter ihr schneeweißes Gefieder zu stecken. Sie schien zu ahnen, dass wir ihr nicht gefährlich werden konnten, denn unten angekommen erwartete uns eine böse Überraschung: Die Betonrampe hörte kurz unter der Wasseroberfläche auf und so verhakte sich der Wagen hinter der Kante im Matsch. Viel Kraft war nötig, um das schwere Boot so weit hochzudrücken, dass andere Kameraden am Wagen rütteln konnten, der sich jedoch störrisch gegen jeden Bewegungsversuch wehrte. Viele helfende Hände, kräftiges Hin- und Herschieben und ein bis zur Hüfte im Wasser stehender Mitruderer waren nötig, um das Biest wieder aus seiner misslichen Lage zu befreien.

Bei unserem Boot waren wir dann vorsichtiger. Nachdem der Unglücksvierer endlich abgelegt hatte, schoben wir unser Boot schnell vom Wagen ins Wasser und gleich darauf an die abermals ungerade Uferkante. Mit viel Kletterarbeit und Hilfe der restlichen Mannschaft legte ich die Skulls auf den vier Plätzen ein. Nachdem wir unfreiwillig ordentliche Mengen Dreck eingeladen hatten, konnte es schließlich weitergehen. „Das Boot sieht aus wie Sau!“, bemerkte unser Obmann. „Ja stimmt, und dreckig ist es auch noch!“, entgegnete ich. Vielleicht hat der abgeranzten „Wicking“ die Schlammkur ja auch nicht schlecht getan.

Wo Werra und Fulda sich zur Weser vereinen, drehten wir unser Boot in die Fulda, um bis zur dortigen Schleuse zu fahren. Da die Schleuse aber schon Feierabend hatte, wartete noch einmal eine Betonrampe auf uns: die letzte und steilste des Tages. Auch hier wuchteten wir die Kähne mit einem Wagen an Land, um sie auf einer schmalen Wiese neben der Schleuse abzulegen. Einige wenige Boote fuhren hinter der Schleuse noch weiter bis zum Mündener Ruderverein, der Rest hatte genug für heute und bevorzugte es, einen langen Fußmarsch durch eine Kleingartenkolonie zum Verein zurückzulegen.

Am Bootshaus angekommen, taperten wir hinter dem Eingangstor an einem Bootshänger vorbei, auf dem neben ein paar alten Gigbooten auch zwei zerdepperte Rennboote vor sich hinrotteten, und suchten anschließend aus dem Sammelsurium von Taschen und Säcken auf dem Bootsplatz unser Gepäck heraus: Der Landdienst hatte ganze Arbeit geleistet. Lager bauen, duschen, und ab zum Griechen. Die deftigen Gerichte hatten wir uns nun wirklich verdient.

Der zweite Tag unserer Fahrt versprach zunächst ruhiger zu werden als der erste. Schließlich lag nur die Fuldaschleuse vor uns, die am Vortag ohnehin nur einige wenige Boote passiert hatten, womit also nicht alle Mannschaften heute wieder hindurch müssten. Und danach würde sich die Weser anschließen, auf der es bis Hameln und damit für die nächsten zwei Tage gar keine Staustufen mehr geben würde. Die „Argo“, ein blau-weißer C-Zweier mit Steuermann, lag friedlich auf dem Bootsplatz des Mündener Rudervereins. Heute also mal ein kleineres Boot und immerhin keines von den Tankschiffen, nicht schlecht. Ich war somit in einem der wenigen Boote, die durch die Schleuse fahren müssten, aber das sollte ja kein Problem sein. Zumindest dachte ich das, sollte aber bald darauf eines Besseren belehrt werden.

Doch zunächst rüsteten wir die „Argo“ aus. Rollsitze, Ersatzrollsitz, Gepäck; alles da. Anders als am Vortag strahlte die Sonne gleißend hell auf uns herab und bildete einen scharfen Kontrast zu den Ansagen unserer Obfrau, deren Tonfall jedem Kasernenhof alle Ehre gemacht hätte. Und so erinnerte in diesen Momenten weniger die ukrainische Flagge, die am Fahnenmast auf dem Bootsplatz trügerisch fröhlich im Wind spielte, an die Martialität im Großen, als vielmehr unsere Obfrau an die im Kleinen. Bei mir hatte die Stimmung jedenfalls einen merkbaren Weg abwärts eingeschlagen, als wir die „Argo“ den Steg hinunter zur Fulda trugen. Auf dem Weg zur Schleuse besserte sich die Stimmung im Boot nur mäßig und so versprach die Schleusung, nachdem die Tore zur Kammer nun endlich geöffnet waren, ein Feuerwerk knalligster Ruderbefehle, obwohl unsere Obfrau auf Schlag saß.

Doch es sollte schlimmer kommen. Als wir gerade in die Kammer glitten, hielt unsere Steuerfrau, die eher zurückhaltend war, plötzlich das Steuer in der Hand: Es war mitsamt der Halteschiene vom Achtersteven abgebrochen. Die Schiene war so verrostet, dass sie sich von ihrer Verankerung gelöst hatte. Nun bedeutet ein fehlendes Steuer nicht, dass ein Boot nicht mehr manövrierfähig ist. Und so gab es zahlreiche Vorschläge, sowohl aus unserer Mannschaft, als auch von den Mitfahrern in den anderen Booten und den Kameraden an Land, die neben der Schleuse ihre am Vortag dort abgelegten Boote fertig machten. Aber unsere Obfrau lehnte jeden Vorschlag, das Boot mit Paddelhaken, Überziehen oder Kommandos zu Steuern, energisch ab und entwickelte zu allem Überfluss auch noch immer mehr Panik. Dadurch wurde unser Boot aber überhaupt erst manövrierunfähig. Nachdem ich mir noch ein paar forsche Bemerkungen anhören musste, schafften wir es immerhin, die Schleuse zu passieren und im Anschluss die Boote zu tauschen: Wir drei wechselten in einen Vierer, der zuvor mit Loch gefahren war, wohingegen es sich zwei starke Ruderer aus diesem Boot in der angeschlagenen „Argo“ so bequem wie möglich machten.

Während die „Argo“ abzog, dampften wir – nun doch wieder mit einem Tankschiff – gemächlich hinterher. Auf der Weser angekommen, konnte sich unsere Obfrau aber immer noch nicht beruhigen und gab fast nur noch Kommandos, die nicht mehr zur Situation passten. Und so scheiterte dann auch der Versuch, mit einem anderen Vierer ein Päckchen zu bilden, damit deren Bugmann unser herausgefallenes Steuer wieder einhängen konnte (unsere Steuerfrau war die gleiche wie zuvor in der „Argo“ und schien den Steuern offenbar Unglück zu bringen). Da der andere Vierer schließlich keine Lust mehr hatte, noch einmal zu versuchen, an unserer Steuerbordseite längsseits zu gehen, musste unsere Obfrau nun selbst ins Heck klettern. Siehste..

Ab jetzt wurde es aber endgültig ruhiger und langsam meditierten wir in unserem Boot die sachten Kurven der Weser hinab, während die „Argo“ schon längst aus dem Blickfeld verschwunden war. Dieses Boot stellte sich auf der Wanderfahrt übrigens nicht nur als bemitleidenswerter Pechvogel, sondern auch als mit Abstand größtes Schrottschiff der gesamten Tour heraus. Nicht nur das Steuer war abgebrochen: Auch die Rändelmutter auf 1 Backbord ließ sich zunächst nicht lösen, und später, als es dann doch geklappt hatte, nicht wieder festdrehen, weil die Gewindestange zu lang war. Mit einer 10er Mutter ließ sich das Problem von der neuen Mannschaft zwar lösen, aber der Bugmann brauchte zum Verstellen nun immer einen passenden Schraubenschlüssel. Zum schlechten Gesamteindruck des Gefährts trug noch wesentlich bei, dass das gesamte Holz auf der Dollbordoberkante einschließlich des Affensitzes so durchgefault war, dass es sich mit dem Finger eindrücken ließ. Der Bügel einer Dolle ließ sich auch nicht mehr festdrehen.

Nun ging es aber endlich ohne weitere Störungen in der „Weser“ weserabwärts. Der blaue D-Vierer war nicht nur das einzige Berliner Boot auf der Wanderfahrt, sondern auch das mit Abstand bestgepflegteste. Es war außerdem kein Zufall, dass der Ruderclub Turbine Grünau, der alle Boote nach Flüssen benennt, gerade ein Boot dieses Namens mit auf die Fahrt genommen hatte. Als einziger Mann in einem reinen Frauenboot blieb der eine oder andere süffisante Kommentar seitens der Ruderkameradinnen nicht aus, und so trug mein von der Mannschaft nunmehr zu Dominika feminisierter Vorname ebenso zur Erheiterung bei wie meine diversen Hübsch-Mach-Fantasien, die wir freilich mangels geeigneten Materials nicht umsetzen konnten. Unterdessen passierten wir die erste Seilfähre, deren Ankündigung auf dem entsprechenden Verkehrsschild bereits unsere gespannte Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Jetzt hieß es aufpassen, denn das Seil im Wasser konnte gefährlich werden. Doch zu unserer Erleichterung stellte sich heraus, dass das Führungsseil der Fähre einige Meter über dem Wasser gespannt war und die Fähre mittels zweier Schlitten daran befestigt war. So brauchten wir dann auch nur darauf zu achten, der Fähre nicht in den Weg zu fahren. Im weiteren Verlauf der Wanderfahrt sollten uns noch viele weitere Seilfähren gleicher Bauart begegnen, die gemächlich mit der Strömung von einem Ufer zum anderen glitten. Umweltfreundlich wird hier – von einigen wenigen freifahrenden Motorfähren einmal abgesehen – also schon länger übergesetzt.

Die Landschaft entlang der Fahrtroute möchte ich nicht erschöpfend beschreiben, obwohl sie es durchaus verdient hätte. Sie ähnelte weitgehend den Gegenden entlang der Werra, nur dass die Täler entlang der Weser breiter waren. Die Berge und Auen, die sich an den Ufern abwechselten, wurden lediglich hin und wieder von einigen dicht beparkten Campingplätzen unterbrochen, auf denen man sich zwischen den immer gleich aussehenden Wohnmobilen die Zahnbürste durch die Fenster hätte reichen können. Immerhin ließen die auf fast allen Fahrzeugen montierten Satellitenschüsseln erahnen, dass in der trauten Enge der weißen Blechkisten niemand in Verlegenheit kommen würde, mit seinem Gegenüber reden oder sich gar anderweitig beschäftigen zu müssen.

Auf dem Wasser selbst war es ruhig. Die wenigen Motor- und Paddelboote, die uns begegneten, ließen sich an einer Hand abzählen. So sollte es im Übrigen die ganze Fahrt über sein. An Steuerbord grüßte nun Bodenfelde mit dem Holzkohlewerk, dessen hoch gemauerter Schlot uns fröhlich rauchend in einen Geruch einhüllte, der stark an laue sommerliche Grillabende erinnerte. Immerhin sollte es nicht mehr lange bis zum Mittagessen dauern, wenngleich wir in Würgassen sicherlich nicht mit einem Barbecue würden rechnen dürfen. Aber zuvor passierten wir einige Kurven hinter Bodenfelde noch Bad Karlshafen backbords, dessen Barockhafen sich schüchtern hinter einer Schleuse versteckte. Noch zwei Kurven, dann gingen wir aber endlich in Würgassen an Land, um im Restaurant „Alte Linde“ unser Mittagessen einzunehmen. Hier trafen wir auch die Mannschaft der „Argo“ wieder, die es entgegen unserer Annahme doch noch nicht bis nach Bremen geschafft hatte. Unsere Obfrau bot beim Essen nach Absprache mit mir an, dass ich zur Erleichterung in die „Argo“ wechseln könnte, damit wenigstens einer aus der Mannschaft sich im Vierer ausruhen könnte. Der Obmann des Zweiers lehnte dies mit der Formulierung ab, dass er ja nicht wisse, ob ich so eine Erleichterung sei. Mein unbewusst irritierter Blick, der seiner Aussage wohl folgte, war dann auch die Ursache dafür, dass sich unsere Obfrau ihn später nochmal zur Brust nahm: Jedenfalls kam besagter „Argo“-Obmann kurz vor der Abfahrt auf mich zu, um sich zu entschuldigen. Kurz vor Abfahrt kam dann auch ein einsames Fahrgastschiff bergauf gefahren, dessen Bugwelle trotz des flachen Bugs und der starken Gegenströmung weniger schlimm ausfiel als gedacht.

Mit Ausnahme eines neuen Bugmanns (kein „Argo“-Fahrer) setzten wir unsere Fahrt schließlich in der gleichen Mannschaft wie auch zuvor schon fort. Bis Höxter, dem Ziel dieser Tagesetappe, konnte es nun nicht mehr weit sein. Mir war schon am Tag zuvor erzählt worden, dass es sich um das kälteste Bootshaus Deutschlands handeln solle. Die Kameraden, die mir von ihren Aufenthalten dort berichteten, hatten die frostdurchzogenen Geschichten von diesem Etablissement wahrscheinlich schon öfter erzählt und mit jedem Mal in guter Ruderermanier ein bisschen schlimmer ausgeschmückt.

Inzwischen passierten wir backbords ein Betonwerk, dessen Verladeanlagen am Weserufer sicher schon lange außer Betrieb waren. Überhaupt schien die Weser kaum noch von der Güterschifffahrt genutzt zu werden, denn auch andere Hafenanlagen, von denen es die gesamte Fahrt über nicht sehr viele gab, sahen verwaist aus. Für die Werra gilt offenbar das Gleiche; von den stillgelegten Schleusen dort habe ich ja bereits geschrieben. Sicherlich machen die stark schwankenden Wasserstände auf beiden Flüssen eine zuverlässige Logistik über das ganze Jahr hinweg unmöglich. Zumindest erzählte uns eine Kameradin aus Rinteln, dass sie manchmal gefühlt noch Wasser in die Weser kippen müsse, um überhaupt auf ihr rudern zu können.

Kurz vor Höxter ließen wir uns immer wieder von der Strömung treiben, da einige Mannschaftsmitglieder es vorzogen, statt eines Stadtspaziergangs noch die Nachmittagssonne zu genießen, die uns eigentlich auch vormittags schon stundenlang gebrutzelt hatte. Aber die Aussicht auf ein kühles Bierchen ließ dann auch die letzte Zweiflerin wieder in die Eisen steigen.

Kurz vor dem Weichbild Höxters an Backbord tauchte auf der Steuerbordseite der Ruderverein auf. Der Ruderverein Höxter von 1898 wartete im Obergeschoss mit mehreren Räumen auf, in denen zahlreiche zweigeschossige Etagenbetten standen. Da es aber nicht genug Schlafplätze für alle gab und sich meine Isomatte und auch der müde Schlafsack einen Ruhetag verdient hatten, beeilte ich mich, einen der begehrten Bettplätze zu bekommen. Die Betten waren extrem schmal, und so machte es mir einige Sorgen, dass ich oben schlafen musste.

Aber erstmal ging es nach einer erfrischenden Dusche in die Altstadt zum Griechen. Auf dem Weg zum Restaurant, das in einer alten Wassermühle untergebracht war, passierten wir staunend zahlreiche bestens restaurierte Fachwerkhäuser aus dem 16. Jahrhundert, deren spruchgeschmückte Fassaden unsere Aufmerksamkeit auf sich zogen. „Du sollst das Recht nicht beugen und sollst auch keine Person ansehen noch Geschenke nehmen, denn die Geschenke machen die Weisen blind“. Der Bibelspruch an der Fassade, die das Jahr 1578 trug, wirkt erstaunlich zeitlos, auch wenn ich ihn hier zugegebenermaßen neuhochdeutsch angepasst habe. Mit dieser Lebensweisheit ausgestattet gingen wir nun unsere leeren Mägen füllen. Es folgten mehrere Stunden interessanter Gespräche und ein schöner abendlicher Spaziergang zurück ins Bootshaus.

Ein ebenso ereignis- wie lehrreicher Tag ging zu Ende, der nicht nur untermauerte, dass Panik kein guter Helfer in der Not ist, sondern auch zeigte, dass das Bootshaus in Höxter nach erfolgter Sanierung sein frostiges Image zumindest teilweise widerlegen konnte.

Des Nachts hatte sich herausgestellt, welchen Vorteil eine ausgiebige Rudertour hatte, wenn man auf einem schmalen Etagenbett auf der oberen Matratze übernachten musste: Ich lag wie ein Stein in meinem Nachtlager und war somit, entgegen meinen Befürchtungen, nicht aus dem Bett gefallen. Auch hatte ich dank meines hervorragenden Schlafs das ohrenbetäubende Sägen einiger berüchtigter Schnarcher überhört. Nur eines blieb mir nicht erspart: Nachdem ein gewichtiger Ruderer, der ebenfalls in seinem Etagenbett oben geschlafen hatte, seinen kräftigen Körper nach dem Aufstehen mit einem Schwung und dem folgenden Rumms aus dem Bett beförderte, saß ich fast kerzengerade auf meiner Matratze.

Immerhin war ich nun wach genug zum Aufstehen, und bald fanden wir uns alle an der langen Frühstückstafel im Clubraum wieder. Wir stärkten uns am reich gedeckten Büfett, das der Wirt für uns vorbereitet hatte, und nachdem wir dem Verein eine Erinnerungsurkunde an die 60. LRV-Osterfahrt überreicht hatten, schauten wir wieder mit Anspannung auf die Bootseinteilung: Ich saß mit dem Fahrtenleiter in der „Argo“. Endlich mal wieder ein C-Boot fahren, und außerdem entschieden wir, dass ich auf der 1 sitzen und damit Steuern würde. Ich freute mich, schließlich versprach die Einteilung trotz des Schrottboots eine höhere Geschwindigkeit als an den beiden Vortagen und außerdem würde es dank des Steuerns abwechslungsreicher werden.

Wir fuhren als letztes Boot los, und mussten hinter der großen Brückenbaustelle in Höxter erst einmal anhalten, da sich das Einstellen wieder mal als nicht so einfach herausstellte. Anschließend ging es aber umso flotter los. Vor uns sprudelte die Strömung durch Untiefen an die Oberfläche herauf und wirbelte zwischen den Buhnen. Nach einer Backbordkurve passierten wir das Kloster Corvey mit seinen beeindruckenden Ausmaßen, um uns bald darauf alleine in einer menschenleeren Landschaft wiederzufinden.

Die wenigen Orte, die das Ufer säumten, konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass es recht einsam zuging. Selbst das vergleichsweise große Holzminden konnte daran nichts ändern. Langweilig wurde es allerdings nicht. Mein Schlagmann und ich konnten uns wunderbar unterhalten, und so verging Kilometer um Kilometer, Kurve um Kurve.

Auch an diesem Tag roch es abschnittsweise mehr oder weniger stark salzig, was mit dem Geschrei vereinzelter Möwen Erinnerungen an die Nordsee aufkommen ließ. Was auf mich erholsam wirkte, hat allerdings einen ernsten Hintergrund: Der Abbau von Kali führt an Werra und Weser zu einem massiven Versalzungsproblem. Auch einige Transparente von Bürgerinitiativen warnten am Ufer immer wieder vor einer weiteren Versalzung der Weser.

Inzwischen tauchte am Horizont einer der vorausfahrenden Vierer auf, der sich in der Strömung treiben ließ. Wir beschlossen, nachdem wir ihn erreicht hatten, längsseits zu gehen und ein Päckchen zu bilden. Zu unserem Glück hatte der Vierer beim Ablegen in Höxter eine umfangreiche Ladung kleiner Spirituosenfläschchen an Bord genommen, und so wanderten einige Kümmerlinge über die Bordwand in unsere „Argo“. Im Gegenzug reichten wir der Mannschaft ein paar Ostersüßigkeiten. Frisch betankt trieben wir ein bisschen vor uns hin, bis wir unseren Ablegewunsch ankündigten. Der Steuermann des Vierers, der bis jetzt unseren Bug festgehalten hatte, quittierte den Wunsch damit, dass er uns mit einem kräftigen Schubser abstieß. Er hatte mit diesem coolen Manöver die Lacher freilich auf seiner Seite.

Schlag für Schlag ruderten wir weiter weserabwärts. Hinter Polle mit seiner mächtigen Burgruine bogen wir in eine scharfe Rechtskurve ein, hinter der sich der Fluss wieder sanfter durch die Landschaft wand. Nun konnte es nicht mehr weit bis zu unserer Ersatzmittagspause am Weserimbiss sein. In der nächsten Kurve konnten wir an Steuerbord bereits einige Kameraden am Ufer ausmachen, die uns mit Handzeichen zu verstehen gaben, dass wir hier in Reileifzen richtig seien. Nur unser Fahrtenleiter war etwas konfus, denn er hatte wohl einen anderen Imbiss etwas weiter flussabwärts an Backbord gemeint, den er als Weserimbiss in Erinnerung hatte. Die Verwirrung wurde perfekt, als Google Maps laut einem Kameraden an Land anzeigte, dass der Imbiss hier in Reileifzen Weserimbiss heiße. Das machte unseren armen Fahrtenleiter nun vollends konfus und so wusste er nicht mehr, welchen Imbiss er gemeint und vor allem mit welchem er im Vorfeld telefoniert hatte. Wir gingen aber dennoch an Land und bemerkten, dass der uns nachfolgende Vierer, mit dem wir kurz zuvor noch das Päckchen gebildet hatten, weiterfuhr und bei dem ominösen anderen Imbiss an Backbord anlegen wollte, der von Reileifzen aus aber noch nicht zu sehen war. Bald würden wir also Klarheit darüber haben, ob es ihn nun gab oder nicht. Unterdessen bestellten wir in der gut besuchten Imbissbude Currywürste, Pommes und Kuchen und auch das eine oder andere alkoholische und nicht alkoholische Kaltgetränk. Die strammen Brutzlerinnen bestätigten uns unterdessen, dass es den anderen Imbiss, eine Burgerbräterei, tatsächlich gebe und dieser auch geöffnet habe. Resigniert ließen wir uns unser Mittagessen schmecken und beobachteten die illustre Runde aus Rentern, Familien, Bikern und uns Ruderern, die sich hier zum Essen eingefunden hatte.

Später, als wir an einer scharfkantigen und knapp überspülten Steintreppe in die Boote gestiegen und uns von der Strömung wieder in Fahrtrichtung hatten drehen lassen, sahen wir bald an Backbord die Anlegestelle mit dem Campingplatz, auf dem auch der ominöse andere Imbiss sein sollte. Die Vierermannschaft, die nicht am Weserimbiss angelegt hatte, war hier an Land gegangen. „Hat der Imbiss offen?!“, wollte unser Fahrtenleiter wissen. „Nee!!“, entgegnete die Mannschaft einhellig. Da hatten wir ja nochmal Glück gehabt und die Brutzlerinnen vom Weserimbiss kannten ihre Konkurrenz offenbar nur sehr schlecht.

Kaum hatten wir den Campingplatz passiert, folgte abermals eine scharfe Rechtskurve, deren Ufer allerdings nicht kontrastreicher hätten sein können. Die Innenkurve bestand aus einem seichten Ufersaum, der sanft in eine Wiese überging, an deren Ende eine Familie vor der Kulisse eines Dorfes fröhlich zu uns herüberwinkte. An der Außenseite der Kurve hingegen schlängelte sich eine schmale Straße direkt am Ufer entlang, die an ihrer weserabgewandten Seite von einer lockeren Häuserreihe gesäumt wurde. Wie ein Damoklesschwert wuchs eine steile Felswand unmittelbar hinter den Häusern empor und jeder Brocken, der sich von ihr lösen würde, müsste unweigerlich auf eines der Dächer fallen.

Wir fuhren den geschwungenen Flusslauf weiter abwärts, bis wir vor Bodenwerder auf einen weiteren Vierer trafen, mit dem wir uns ein Stück treiben ließen. Während wir unsere Getränke ansetzten, trieb an unserem Nachbarboot ein halb angefaulter Fisch von beträchtlicher Größe vorbei, der sich zu unser aller schauderhaften Überraschung nach einem kurzen Stupser mit dem Skull als untot herausstellte, denn er richtete sich plötzlich auf und tauchte mit langsamen Bewegungen in die Tiefen der Weser hinab.

Bald fuhren wir auch schon wieder weiter, machten kurz hinter Bodenwerder allerdings nochmal eine kleine Quatsch- und Räsonierpause. Doch der Pegelstand in der Bierflasche zeigte an, dass der Tag bereits fortgeschritten war. Und so stiegen wir wieder in die Eisen, bis wir einige Kilometer weiter unsere beiden Zweier erreichten, die in der Strömung trieben und zum Mitdümpeln einluden. Doch allzu lange sollten wir nicht gedankenverloren auf das strömende Wasser und die saftig grünen Wiesen am Ufer schauen, denn mit einem Blick über die Schulter sahen wir in der Ferne plötzlich die Kühltürme eines Kraftwerks aufragen. Bevor wir uns länger fragen konnten, worum es sich dabei handelte, lieferte der nächste Ort am Ufer, den wir nun wieder rudernd passierten, die Antwort: Grohnde. Im Näherkommen wuchsen die Türme zu schattenwerfender Höhe heran. In gespenstischer Ruhe lag die stillgelegte Anlage vor uns, die nun auch den Blick auf die geduckte Schutzkuppel des Reaktors freigab. Langsam bewegten wir uns an dem AKW vorbei, hinter dem zahlreiche Windräder von einer neuen Art der Energiegewinnung zeugten. Am Kühlwassereinlauf, vor dem ein Rechen Fremdkörper aus dem Wasser filtern sollte, warnte uns ein Rudern-Verboten-Schild davor, in den Kühlwasserkreislauf des Reaktors hineinzufahren, was wir aber eh nicht vorgehabt hätten. Insofern ließen wir die Anlage nach ein paar Erinnerungsfotos auch bald wieder hinter uns.

Und so fuhren wir die letzten Kilometer Richtung Hameln. Auf Höhe der Tündernschen Warte riss die Strömung langsam ab: Die Schleuse Hameln kündigte sich an. „Wenn wir da sind, gönnen wir uns erstmal ein Bier!“, frohlockte unser Fahrtenleiter. „Das machen wir!“, bestätigte ich fröhlich. Wir überholten noch ein kleines Motorboot, bevor auf der Steuerbordseite der langgestreckte Schwimmsteg des Rudervereins „Weser“ von 1885 in Sicht kam. Da es hier fast keine Strömung mehr gab, konnten wir diesmal ohne vorheriges Wenden direkt aus der Fahrt heraus am Steg anlegen, auf dem bereits eine Kameradin vom Landdienst auf uns wartete. Raus mit dem Boot und ab zum Bierkasten. Wir öffneten zwei Flaschen und ließen sie aneinanderklirren. „Lief doch toll, die Fahrt!“, waren wir uns einig. Nacheinander trafen nun die anderen Boote ein, die es allerdings vorzogen, vor dem Anlegen doch wie gewohnt zu wenden. Wir trugen ein Boot nach dem anderen das schräge gepflasterte Ufer bis zum Bootsplatz hinauf und mussten dabei höllisch aufpassen, nicht über die Drahtseile zu stolpern, die von den Seilwinden auf dem Bootsplatz bis hinunter zu den Stegen reichten und nur knapp über dem Boden gespannt waren. Mit den Seilen werden die Stege je nach Wasserstand weiter heraufgezogen oder herabgelassen.

Wir reihten die Boote vor den Bootshallen auf und unterzogen sie schon heute einer gründlichen Reinigung, da es dazu am nächsten Tag in Rinteln wohl keine Gelegenheit mehr geben würde. Die „Argo“ hatte dann auch für diese Fahrt ausgedient und verschwand schließlich abgeriggert auf dem Bootshänger.

Als alle Boote wieder im Rahmen ihrer freilich bescheidenen Möglichkeiten glänzten, holten wir unser Gepäck von den Landdienstbussen ab und schleppten es durch die geräumigen Bootshallen in unser Nachtquartier: Ein großer Saal, unter dessen Decke ein ausrangierter geklinkerter B-Dreier aufgehängt war, der mit seinen sechs Skulls wie ein riesiges Insekt über unseren Köpfen schwebte.

Nach einer erfrischenden Dusche und Quartiermachen warteten im Speisesaal nun Dagmar – die Wirtin der Ökonomie – und ihr Sohn mit einem erstklassigen Abendessenbüfett auf uns. Das reichhaltige Essen tat nach der langen Tour wirklich gut!

Aber damit sollte der Abend noch lange nicht vorbei sein: An der Tündernschen Warte hatten wir auf einer Wiese den verheißungsvollen Scheiterhaufen eines Osterfeuers gesehen, zu dem sich ein kleiner Trupp Kameraden nun aufmachen wollte. Ein Ruderer fuhr uns mit dem LRV-Bus zu unserem Ziel, das sich durch die zunehmende Dichte an Leuten und Autos schon bald ankündigte. Wir parkten den Bus neben einer schmalen Straße und krochen geduckt durch ein lichtes Gebüsch auf die Wiese, auf der das Osterfeuer bereits einladend warm loderte. Hell züngelten die rot-gelben Flammen in den dunkelblauen Nachthimmel hinauf und ließen uns eine Weile in fasziniertem Anblick davor versinken. Ein betrunkener Zuschauer wurde bereits von mehreren Leuten aus der Gefahrenzone bugsiert. „Wegen Explosionsgefahr“, mutmaßte einer von uns.

Allmählich fielen die brennenden Zweige in sich zusammen und die Schaulustigen traten näher an die kleiner und schwächer werdenden Flammen heran. Schließlich beschlossen wir, unseren Fußmarsch durch die Nacht zurück zum Bootshaus anzutreten. Unser Fahrer war schon frühzeitig wieder dorthin zurückgefahren, aber ein kleiner Spaziergang durch die dunklen Felder, am Weserufer entlang, war eh reizvoller als abermals in den Bus zu steigen. Hinzu kam, dass wir noch mit einem beeindruckenden Vollmond belohnt wurden, der in der Ferne wie eine weißrote Sonne majestätisch hinter einem hell erleuchteten Zeilenbau emporstieg und zeitweise so wirkte, als sei er dessen Kuppel.

Zu Hause angekommen, fielen wir, etwas verkohlt möffelnd, in unsere Nachtlager. Links von mir grüßten die Füße eines Mitfahrers aus dem Schlafsack heraus, rechts schlief ein eher schüchterner Kamerad, der für gewöhnlich nicht viel sprach, dafür nun aber lauter schnarchte als jeder andere im Saal. Stille Wasser sind bekanntlich tief.

Zum Frühstück gab es riesige Brötchen. Kaum jemand von uns hatte je zuvor Brötchen in dieser Größe gesehen. Von Dagmar und Sohn für die letzte und kürzeste Etappe der Fahrt somit regelrecht überversorgt, nahmen wir die Bootseinteilung zur Kenntnis: Im D-Vierer „Westerland“ mit einem Obmann, der wegen seiner chaotischen Art bereits so etwas wie eine lebende Legende war. An dieser Legende sollte er auch in der großen Hamelner Schleuse weiter bauen, aber dazu später mehr. Zuerst musste die größte Herausforderung gemeistert werden, nämlich die Skulls in die Dollen einzulegen. Was einfach klingt, ist es durchaus nicht. Jeder weiß es besser und so ist Rudern manchmal wie Varieté, nur zum Mitmachen.

Der Ruderplatz im Bug der „Westerland“ fühlte sich an wie ein Thron. An die ungewöhnlich hohe Lage über dem Wasser konnte ich mich aber schnell gewöhnen, während wir gemächlich in Richtung der Hamelner Schleuse fuhren. Vor den geschlossenen Toren warteten wir auf die anderen Boote, bis der Schleusenwärter, der über unsere Ankunft bereits informiert war, die großen Torflügel allmählich öffnete und nach längerem Warten auch die Ampel auf grün stellte. Unser Boot fuhr als erstes in die riesige, leicht nach rechts gekrümmte Kammer ein, deren hohe Backsteinwände nach zwei Dritteln durch ein drittes Tor unterbrochen waren. Die Boote fuhren in den dahinterliegenden kleineren Teil der Schleuse und verteilten sich an den kühlen Wänden. Während wir längsseits gingen, griff ich nach dem unter einem Gepäckberg liegenden Paddelhaken und hielt plötzlich nur noch einen hölzernen Stumpf in der Hand: Es war der Rest eines Paddelhakens, der am Vortag zerbrochen war. Ich wäre nicht auf die Idee gekommen, dass unser Obmann dieses klägliche Überbleibsel als „brauchbares“ Werkzeug im Boot belassen würde. Und nun? Da der Sog beim Schleusen vom Heck her kommen würde, reichte es aus, dass unser Obmann, der zugleich Steuermann war, sich an der Wand festhielt. Er hatte immerhin noch einen vollständigen Paddelhaken, während ich meinen Stumpf dem Bugmann des Nachbarbootes zum Festhalten anbot. Unser Steuermann hielt sich indes nun lieber direkt mit der Hand an einer Leiter fest, selbst dann noch, als es abwärts ging und die bealgten Sprossen zum Vorschein kamen. Erst kurz vor Schluss zog er es dann doch vor, sich mit dem Paddelhaken an den schleimigen Tritten festzuhalten, ließ ihn beim Abstoßen aber auch gleich in der Leiter stecken. Kurz zurück und das gute Stück eingesammelt, dann ging es endlich aus der Schleuse und kurz darauf auch aus Hameln hinaus.

Heute war der Tag der wandernden Rollsitze, denn entweder harmonierten Hinterteil und Sitzschale nicht miteinander oder der Rollsitz hatte irgendwelche technischen Macken. Glücklicherweise war ein Ersatzrollsitz an Bord und nach einem lebhaften Tauschgeschäft untereinander hatte schließlich jeder sein Lieblingsstück gefunden. Bei einem Sitz mit ungeraden Wellen ging jetzt aber das Gequietsche los. „Wir haben eine Nachtigall an Bord!“, rief jemand ironisch. Ein bisschen Wasser und das Vögelchen war still.

Wir waren heute fast immer die ersten unter den nur noch fünf Booten, die die letzte Etappe der Fahrt bestritten. Kurze Pause hier und da. Sollten wir auf die anderen warten? Nein, heute sollte kein Gammeltag sein, entschied unser Obmann. Also ging es weiter. Die Kanuten, an denen wir vorbeizogen, machten uns freundlicherweise darauf aufmerksam, dass wir ja rückwärts fuhren. „Dafür sind wir aber schneller!“, konterten wir. Wer würde dem etwas entgegenhalten, zumal der blaue Kanadier bald hinter der letzten Kurve verschwand? Weiter ging es durch die Weserauen, vorbei an einigen Kiesgruben und dem zugehörigen Verarbeitungsbetrieb, dessen Schuten friedlich am Ufer schliefen. Nichts deutete darauf hin, dass hier mal ein Ruderboot gekentert war. Schnell weiter. Nun konnte es nicht mehr weit sein. Allmählich wurde auch unsere Nachtigall wieder wach und verwandelte sich langsam aber sicher in eine nervende Krähe. Nach einem erneuten Bad gab sie dann aber wieder Ruhe.

Langsam schob die „Westerland“ ihren Bug die kurvige Weser hinab. Von der leichten Urlaubsfrische seiner Namensgeberin hatte der betagte Vierer kaum etwas geerbt, einzig mit den morbiden Hochhäusern des berühmten Nordseebads schien er um die Wette gealtert zu sein. Über die sperrhölzerne Bugabdeckung, deren grau-schwarze Ränder sich in einzelne Schichten aufzufächern begannen, fiel der Blick auf die Türme von Rinteln. Noch ein Schwenk nach Steuerbord und wir ließen uns gemächlich unter der großen Hindenburgbrücke hindurchtreiben. An Steuerbord grüßte eine Strandbar, an Backbord ein kecker Spaziergänger: „So lässt es sich fortbewegen!“, frotzelte er. Auf unsere Erwiderung, dass wir ja schon von Hameln hierher gerudert seien, wich seine Witzelei einem anerkennenden Gesichtsausdruck und wir ließen ihn gerne im Unklaren darüber, dass das für uns eigentlich keine allzu weite Strecke gewesen ist. Nachdem wir unsere Lebensgeister so mit neuem Selbstbewusstsein aufgetankt hatten, schrubbten wir umso heldenhafter die letzten zwei Kilometer bis zum Wasser-Sport-Verein Rinteln. Die Einfahrt in den Doktorsee zeigte uns, dass unser Schlachtschiff auf stehendem Gewässer nur von sehr begrenztem Reiz war, aber wir hatten es ja eh nicht mehr weit. Am Steg angekommen, blieb kaum Zeit, unseren Kram aus dem Boot zu räumen und den Bootswagen zu holen, da kamen auch schon die nächsten Boote an. Die Skulls und die schwersten Habseligkeiten mussten aber trotzdem heraus, doch leider hatte sich dem Manöver auch unser Obmann angeschlossen. Und so stellte sich das träge Boot plötzlich als erstaunlich eigensinnig heraus, denn offenbar wollte es das Wasser gar nicht verlassen und hatte den kleinen Moment der Unaufmerksamkeit dazu genutzt, um seitlich vom Steg davonzudümpeln. Ich rannte auf das Stegende zu: „Nimm ein Skull!“, rief eine Kameradin. Doch ich erwischte die „Westerland“ gerade noch am Steuerbord-4-Ausleger. Dem Obmann wurde kurz der Kopf gewaschen, als das Boot schon wie ein Wal auf der Rolle lag und es sich schließlich auf dem Bootswagen gemütlich machte.

Nacheinander zogen wir nun die Boote mit dem Wagen die steile Rampe zum Bootshaus hinauf, riggerten sie ab und luden sie auf die Hänger. Schluss für diese Fahrt.

Eine Mitfahrerin, die Mitglied im Wasser-Sport-Verein Rinteln ist, bereitete uns gemeinsam mit ihrem Mann noch eine kleine Abschlusskaffeetafel. Fröhlich schwatzend konnten wir den Kaffee noch mit etwas Pflaumenschnaps veredeln. Doch schließlich war der Moment des Abschieds gekommen und so trennten sich viele Wege schon hier – mit warmen Umarmungen und Einladungen, auf weitere Fahrten mitzukommen oder auch einfach mal so in einem anderen Verein vorbeizuschauen.

Nachdem wir uns durch die engen Wege der Campingplätze am Doktorsee hindurchgewunden und einige Minuten später auf die Autobahn Richtung Berlin gefahren waren, überholten wir fröhlich winkend den Turbine-Bus mit der kieloben liegenden „Weser“ im Schlepptau. Freie Fahrt voraus vertrieben wir uns die Zeit mit heiteren, aber auch ernsten Gesprächen, sahen nach einigen Stunden Fahrt in der Ferne links das Magdeburger Wasserstraßenkreuz und passierten noch später schließlich den utopisch poppigen ehemaligen Grenzübergang Dreilinden. Am Bahnhof Westkreuz angekommen, mussten auch die Berliner und Brandenburger sich nun voneinander trennen und abermals verabredeten wir uns locker oder luden uns gegenseitig ein, mal in dem jeweils anderen Verein vorbeizuschauen.

Die 60. LRV-Osterfahrt endete in der sonor heulenden S-Bahn mit einem wehmütigen Gedanken an die ruhigen Tage auf Werra und Weser. Eine erlebnis- wie lehrreiche, aber auch fröhliche und erholsame Fahrt war zu Ende gegangen, über die ich noch lange nachdenken musste. Neben zahlreichen neuen Kontakten habe ich viel dazugelernt, über Landschaften und Gewässer, Verhalten auf dem Wasser und in Gefahrensituationen, und natürlich auch darüber, mit den unterschiedlichsten Charakteren einen harmonischen Umgang zu finden. Der Facettenreichtum dieser Wanderfahrt hat mich beeindruckt, und so wird diese Tour sicher nicht meine letzte gewesen sein. Und wer weiß, vielleicht habe ich irgendwann doch noch einmal das Vergnügen, auf einer Fahrt mitzufahren, auf der etwas so richtig schief geht und die dann keines ausschweifenden Berichts mehr bedarf, um vor dem „Fajessn“ bewahrt zu werden.