Werbung für die ‚Ruderei‘ im Berliner Lokal-Anzeiger von 1901

Um Mitglieder für den Märkischen Ruderverein zu gewinnen, veröffentlichte Richard Nordhausen im Sommer und Herbst 1901 mehrere Artikel im Berliner Lokal-Anzeiger, die auf die Vorzüge der Wanderruderei aufmerksam machen sollten. Er nutzt dabei das Pseudonym Max Kempff. Wir veröffentlichen die Artikel hier nochmal.


Der Scharmützel

Das ist nun allerdings eine sehr sandige Gegend.

Ich bin einmal vor Jahren, von der ehrwürdigen Bischofsstadt Fürstenwalde aus, durch das Revier gewandert, an Rauen vorbei, dem schwarzen, verstaubten Braunkohlenneste, um den ganzen Scharmützelsee herum. Bei Rauen liegen die beiden größten Felsblöcke, deren Brandenburg sich rühmen darf, die Markgrafensteine. Wirklich ganz hübsche Findlinge. Der größere von ihnen guckt etwa fünf, der kleinere vier Meter hoch aus dem Sande empor. Die Umgegend ist stolz auf diese Ungeheuer, die wie zwei Klumpen Unglück mitten in der Kiefernhaide liegen, und wer aus minder begnadeten Bezirken der Mark hierher gepilgert kommt, der versinkt allemal in ehrfürchtiges Staunen. Daß es so riesengroße Steine in der Welt giebt, das sollte man eigentlich gar nicht glauben. Anderswo liegen ja auch Feldsteine die Menge auf den Aeckern herum, und sie machen uns Aerger genug, aber solche Giganten! Hört man nun erst einen Rauener erzählen, daß der Fünfmeter-Stein noch im Jahre 1827 dreimal so groß war, daß aber in diesem Jahre König Friedrich Wilhelm III. die prächtige Granitschale aus ihm herausschneiden ließ, die jetzt im Berliner Lustgarten und im Bädeker steht, dann weiß man sich vor Verwunderung nicht zu fassen. Und andachtsvoll klettert man auf den runden Cyklopentisch, der aus einem abgesprengten Teile des Wundersteines herrührt, und erquickt sich an dem erfreulichen Fernblick in die Ebene.

Berlins Türme steigen im Westen aus braunem Dunst auf, südwärts blitzt hinter dunklen Wäldern und gelben Sandflächen ein blaues, langgestrecktes Gewässer auf, das rotdächerige Dörfer umstehen. Blendender Sand ist in breiten Massen in die Landschaft ausgestreut, aber das macht sie malerisch und stört einstweilen nicht.

Welcher Fußwanderer klug ist, der kehrt von den Markgrafensteinen schleunig wieder nach Fürstenwalde zurück. Ich war es nicht. Ich folgte entschlossen dem breiten Sandweg, den kümmerliche Kiefern begrenzten und der als einzige Abwechslung unheimlich rotschillernde Giftpilze aufwies. Plötzlich klang munteres Wellklatschen ins Schweigen der märkischen Einsamkeit, und im blendenden Licht, flimmernd von Sommerlust, lag der sagenhafte Scharmützelsee vor mir. Ich habe ihn später noch oftmals grüßen dürfen, aber nie von diesem Wege aus: und reizvoller ist mir seine saphirene Flut niemals erschienen als nach dieser Wanderung, durch Armut und Dürftigkeit. Wie arm und wie dürftig das Land ist, davon macht sich keinen Begriff, wer im Ruderboot den stolzen, von Höhenzügen und Wäldern umschlossenen See befährt und nichts sieht als sein üppiges Geleucht, als das hohe Schilf und die Föhren rundum. Diese Föhren muß man aus der Nähe betrachten. Traurig breiten sie ihre mageren Aeste; offenbar würden sie lieber heute als morgen aus der Welt scheiden. Streckenweise hört der Wald völlig auf, weil ihm das Fortkommen beim besten Willen nicht mehr möglich ist. Alles, was blüht und sproßt, sieht so merkwürdig hungrig aus. Begegnet man zufällig einem Hasen im Geläuf, so ist es sicher ein Auswanderer. Er weiß, der Bauer hat hier alle Hände voll zu thun, um sich mühsam durchzuschlagen; da wäre es unrecht, ihm seine schmale Kost zu verringern.

Wo nicht der blanke Sand hervorgrinst, deckt niederes, dürres, braungraues Gewächs den Boden. Erika und Wolfsmilch, kurzes, halb welkes Gras, Brombeergerank in Vertiefungen. Der Weg bietet keine Erquickung und keinen Schatten. Die Nadelstreu ist längst vom Boden fortgeharkt und ersetzt in den Ställen das kostbare, teure Stroh.

Steht man in dieser Wüstenei, blendende Weiße zu Füßen, der Kiefern durstiges, verkommenes Grün und den funkelnden, heißen Himmel zu Häupten, dann überkommt’s einen wie Rührung, wie herzliche Liebe zu dem wackeren Volksstamme, der trotz tausendfältigen Ungemachs festhielt an der kargen, undankbaren Scholle.

Dann versteht man, warum die Landwirte hier arm und verschuldet, aber auch stolz auf Armut und Verschuldung sind. Ohne seinen Sand und seine kümmerlichen Aecker wäre Brandenburg sicherlich niemals groß geworden: Anderer Länder Kraft mag in ihrem Reichtum liegen; unsere steckt in unserer Armut. Das hübsche Wort, das Friedrich Wilhelm IV. von den Teupitzern sagte: „Sie sind meine Treuesten, denn sonst würden sie längst ausgewandert sein“, dies Wort gilt von allen Beeskow-Storkowern. Der Feind drang selten in das sandverwehte Revier, aber wenn er schon kam, vermochte er doch tödliche Wunden aus leicht ersichtlichen Gründen nie zu schlagen. Die zerstörten dürftigen Hütten waren bald wieder aufgebaut, die zerstampften Felder bald wieder bestellt. Der Sand machte den Märker fähig, so furchtbare Leiden zu ertragen, wie sie der dreißigjähige, der siebenjährige Krieg und die Franzosenzeit mit sich brachten…

Der Wasserweg zum Scharmützel, dem Juwel dieser Landschaft, die er vor dem Geschicke der Sahara bewahrt hat, ist bei weitem reizvoller, doch in mancher Beziehung nicht interessanter. Zum mindesten nicht für den, der auf seinen Wanderungen das Volk gern kennen lernt und sich gern mit einem alten, die schwere Kiepe schleppenden Mütterleen über ihr „Enkeldöchting“ und die „fiefundtwintig blanke, harte Dhoaler“ betragende Mitgift der jungen Dame unterhält. Aber den Ruderer treibt ja auch anderes Verlangen hierher. Und wahrlich – ihm blüht hier Freude ohn‘ Unterlaß, und einen besseren Tummelplatz für ihn giebt es nicht. Hinter Dolgenbrodt zweigt die Einfahrt ab, die am Stammsitz der berühmten märkischen Queisses, dem stillen Blossin, vorbei zum runden Wolziger See führt, dessen hohe Ufer Sandschichten ersten Ranges darstellen. Sie sind leider zum Teil versumpft, wie die Gräben, die von ihm ausgehen. An guten Lagerplätzen fehlt es hier. Das Wasser rinnt unermüdlich in die Wiesen hinein; mehrere hundert Schritte zum Wald hinauf noch erzählt das Riedgras von ihrer Feuchtigkeit. Allenthalben weißgefleckte Birken, verdächtige Erlen.

Dann und wann überspringt eine niedrige Zugbrücke den Kanal, dann und wann treffen wir märkische Bauernmädchen beim Heumachen. Sonst kein Zeichen menschlicher Kulturarbeit, sonst alles noch wie in den versunkenen Jahrhunderten, wo es hier außer dem Heu auch nichts zu holen gab. Weltab gekehrt, weltfern, ahnungslos, daß wenige Meilen nördlich eine Zweimillionenstadt fiebernd hastet und lärmt, so sitzt hier im Erlenbusch verträumt das märkische Märchen…

Storkows Kirche am Markt blitzt auf, und die hübschen Töcher des Strommeisters lassen uns heimlich von den Weintrauben kosten, die Vater mit unsäglicher Mühe am Spalier zieht. Na ja, die Schweinfurter Gußstahlkugel-Industrie ist ohnehin zum Teufel gegangen; da bietet sich in den kernhaften märkischen Weinbeeren vollgiltiger Ersatz.

Noch einmal streichen wir über stattliche Seen hin, die sich im Waldesdunkel verbergen, still und scheu, wie Riesenkinder, die vor den Menschen Angst haben. Sie verstehen sich auf phantastische Zauberkunststücke, und wer sie gerade beim Spiel überrascht, so wenn sie das über Storkow verbrennende Abendrot auffangen und sein Spiegelbild in tausend kleinen Wellen grotesk verzerren, oder wenn sie die Flut in bunt flackernde Glasflüsse zu verwandeln scheinen, der kriegt Respekt vor ihrem künstlerischen Können. Bei Wendisch-Rietz, wo Wöllner begraben liegt, der mit Spuk und Gespenstern wohl vertraute Minister, öffnet sich in Pracht und Glanz der Scharmützelsee.

Wöllner hat sich hier mit Recht begraben lassen. Für einen Geisterbeschwörer gibt es keinen besseren Platz. Die ganze Gegend ist verhext und verzaubert. Man muß nämlich wissen, daß der Scharmützelsee auf einer versunkenen Stadt steht.

Einmal sahen zwei Bauern, die am Ufer Gras mähten, aus den Wassern Rauch aufsteigen, und einer sagte zum andern: „Da backt der Nix Kuchen! Wenn er uns doch auch welchen brächte!“ Nicht lange, so erscheint der Nix mit einem bildschönen Napfkuchen. Und die Bäuerlein wischen sich die Mäuler, denn Napfkuchen ist hier zu Lande ein großer Leckerbissen. „Esset ihn ganz auf, aber lasset ihn ganz, sonst kostet’s Euch den Hals!“ rief der Nix und machte sich wieder davon. Die Grasmähder, klug und bedacht wie alle Märker, schnitten den Kuchen in der Mitte völlig aus und ließen nur den Rand übrig. „Das hat euch der Teufel gelehrt!“ rief der Nix, als er, zurückkommend, sich betrogen sah. Die Nixen ähneln kleinen Kindern; sie kleiden sich in funkelndes Rot und tragen grüne Mützen. Um den Scharmützelsee herum klingt es von ihren Schelmenstreichen, und die Nähe des Wassers macht sie bei allen Müttern gefürchtet. Der Nix liebt es nämlich, in Gestalt eines fremden Jungen mit den Dorfkindern zu spielen und sie immer näher an den See zu locken, bis ihm eines zum Opfer fällt. Erst im vergangenen Jahre erkannte ihn ein ganz besonders kluger Bengel an dem nassen Saum seines Rockes, von dem unaufhörlich Wasser niedertropfte, und rettete sich durch schleunige Flucht. Einmal um die Mitternachtsstunde gingen Bauern auf verbotenen Fischfang und fingen einen Nix im Netz. Sie wollten ihn ans Land ziehen und brachten ihn auch bis zum Ufer; aber da sträubte er sich und schrie so entsetzlich, daß sie erschreckt davon rannten und Netz und Fang im Stich ließen.

Die Nixe sind übrigens wirklich sehr frech. Sogar in die Häuser wagen sie sich, und so legt deshalb jede Mutter, wenn sie zur Arbeit muß, dem Kind in der Wiege ein Gesangbuch unter das Kopfkissen oder hält einen Vogel im Zimmer. Dann haben die Unholde keine Gewalt über das Nesthäkchen.

Die schöne Mär von dem Schwanenmädchen stammt aus der Mark und ist am Scharmützel lebendig. Ein Knabe sah einst, südwärts von Pieskow rudernd, drei Schwäne auf dem Wasser. Er fuhr ihnen nach, und weil es Mittag war und die Sonne sommerlich niederschien, senkte er schließlich müde die Arme und schlief ein. Bei seinem Erwachen fand er sich in einem gläsernen Feenpalast auf dem Grunde des Sees, und neben seinem goldenen Bette standen drei wunderschöne Schwestern. Es gefiel ihm wohl bei den holden Jungfräulein. Unter Sang und Klang, bei beladenem Tische flohen die Tage. Als aber die Damen einmal fern waren und der Pieskower sich allein im Palaste sah, da packte ihn das Heimweh, daß er zu weinen begann und nach seiner Mutter rief. Sofort stand ein altes Weib vor ihm, das ihn nach dem Dorf zurückbrachte. Doch wer einmal die Herrlichkeiten des Feenreiches gekostet hat, dem gefällt es nimmer auf der Erde. Von nun an schlich der Bursche in jeder freien Minute an den Scharmützel und schaute sehnsüchtig nach den drei Schwänen aus. Sie kehrten indes niemals wieder.

Der junge Sportskollege aus Pieskow ist eben ein echter Märker gewesen. In der Phantasie träumt dies Volk von goldenen Bergen und füllt den Bauch der Erde mit Edelsteinen. Kommt aber zufällig einmal das Glück daher und nimmt ihn mit sich, dann vergeht der Brandenburger vor Sehnsucht nach seiner Dürftigkeit, seinem mageren Acker und seinen dünnen Kiefern. Uebrigens weiß er genau, daß auf Märchen- und Sagen-Gold wenig zu geben ist; mit solchen Dingen befaßt er sich nur nach Feierabend.

Bei Tage gilt ihm der Scharmützel als ein fischreicher See wie andere mehr, und wenn er ihn kaufen sollte, mit all seinen versunkenen Städten und Schätzen, mit all seiner geisterhaften Bevölkerung beiderlei Geschlechtes, dann würde er es am liebsten wie der Junker Löschebrand machen. Der erstand den großen See, den zu umwandern zwölf Stunden nötig sind, im Anfang dieses Jahrhunderts für 2000 Thaler vom Fiskus, für 2000 Thaler, wohlgemerkt, in Bons und Lieferungsscheinen, die man ihm aufgedrängt hatte. Als sich bei der Nachzählung der Summe ergab , daß es nur 1998 Thaler waren, da holte er mit lächelnder Ueberlegenheit noch zwei Silberthaler aus der Tasche. „Es kommt mir nicht drauf an“, sagte der Löschebrand dabei. Denn er war ein Grandseigneur. Am Scharmützel wird man das von selber.

—–
Richard Nordhausen unter dem Pseudonym Max Kempff, erschienen im „Berliner Lokal-Anzeiger“ 1901/02 (Hervorhebungen nicht im Original)